Den meisten Menschen ist nicht klar, was Spiritualität bedeutet. Manchmal bringen sie es mit Esoterik in Verbindung, wovon sie ebenso nur vage Vorstellungen haben. Beides ist ihnen fremd und so betrachten sie es als etwas Weltfremdes. Besonders befremdend ist für sie, dass Bestätigung und Befriedigung nicht wie von ihnen gewohnt im Außen gesucht werden. Gerade das ist eben auch ein wesentliches Zeichen der spirituellen Entwicklung. Es geht nicht mehr um ein immer Mehr an Besitz, Ansehen, Genuss, Macht oder Nachkommenschaft. Zwar wenden sich Menschen auf dem spirituellen Weg von diesen Dingen nicht ab, sie identifizieren sich aber nicht mehr mit ihnen und so bestimmen sie auch nicht mehr ihren Lebenssinn. Dieser besteht dann darin, sich in einer heilsamen Weise zu entwickeln und zu entfalten, nämlich hin zum Klaren, Harmonischen und Friedvollen. Können sie dies ein Stück weit realisieren, so kommt das dann auch sehr ihren Mitmenschen und der Welt zu Gute. Was gibt es in dieser Welt der Verwirrung, der Rücksichtslosigkeit und des Unfriedens Wichtigeres als deren Gegenteile zu kultivieren?
Yogis haben darüber hinaus das Bestreben, letzten Endes sogar ein Stück weit hinter die Fassade des Weltlichen und Vordergründigen zu blicken. Allein das Bewusstsein dieser Dimension ist den meisten von uns verloren gegangen; dies brauchen wir aber, wollen wir selbst nicht verloren gehen. In der vom Christentum geprägten westlichen Kultur haben wir das Transzendente oder Göttliche stets als etwas von uns Getrenntes verstanden. Immerhin war es in den Vorstellungen lange Zeit als das Welt und Menschen Bestimmende präsent, bis wir uns mit der Aufklärung davon emanzipiert und schließlich abgewendet haben. Seither leben wir in einem wissenschaftlich und rational geprägten jedoch geistig dürftigen Dasein. Inneres Wachstum bringt uns wieder in Kontakt mit unserem inneren Reichtum.
Der wichtigste Faktor, nicht nur, aber vor allem am Beginn des Weges, ist das Vertrauen in den Weg. Dazu muss man zuallererst an so etwas wie Entwicklung glauben; daran, dass unterschiedliche Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehen und dass man selbst die Fähigkeit hat, in dieser Hierarchie aufzusteigen. Das Bestreben dafür kann durch persönliche Begegnungen mit Meistern, aber auch durch eine inhaltliche Auseinandersetzungen mit den Weisheitslehren erweckt werden. Durch die Präsenz des Meisters als auch durch das Verständnis der Überlieferungen erkennt der Adept, dass es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen und sich einer Disziplin zu widmen. Dies gibt dem Leben Orientierung und Tiefe; etwas, das in unserer Zeit so selten ist. Der Adept jedenfalls trifft einen Entschluss zur regelmäßigen spirituellen Praxis und verfolgt diese. Er übt nicht nur mit Vertrauen, sondern auch regelmäßig und über einen langen Zeitraum. Dies ist deshalb nötig, weil sich unheilsame (Denk-)Gewohnheiten tief in unsere Psyche eingeprägt haben. Diese zu reinigen bedarf stetiger und langer Praxis. Für ernsthaft Entschlossene ist es daher eine Selbstverständlichkeit täglich zu üben, realistischerweise erwarten sie, von zwischenzeitlichen Erleichterungen abgesehen, damit aber keine schnelle Heilung und Transformation, oft müssen viele Jahre vergehen. Der Erfolg wird sich auch nur dann einstellen, wenn richtig und umfassend praktiziert wird. Dafür ist eine authentische Schulung essenziell.
Dies alles ist eine Frage der Prioritäten, die jeder setzen muss. Auch die im Berufsleben Stehenden und die, die eine Familie gegründet haben, können dies tun, ohne jene zu vernachlässigen. Oft widmen wir viele Stunden des Tages Beschäftigungen, die nicht erforderlich sind und uns auch nicht weiter bringen. Wir tun dies aus Gewohnheit; ohne sie zu hinterfragen halten wir sie für notwendig oder sie verschaffen uns für den Moment angenehme Gefühle: sie regen an und unterhalten, lenken ab und beruhigen. Wir können dem Yogi nicht überall folgen, er kann uns jedoch zum Entschluss und zur Disziplin inspirieren: er widmet sein ganzes Leben der Praxis und verfolgt weltliche Ziele nur soweit sie notwendig sind. Diese Betrachtungen muten uns einiges zu, denn sie konfrontieren uns mit der Oberflächlichkeit unseres sogenannten normalen Lebens.
So wichtig die Praxis ist, sie wird für die meisten in der Regel nur einen kleinen Anteil am Tagesablauf einnehmen, sieht man von Zeiten des Rückzugs ab. Sie muss durch Prinzipien der Lebensführung ergänzt werden, die den Alltag positiv formen. Hier unterscheidet man in der Yogatradition die sozialen Prinzipien (Yamas) und die Prinzipien im Umgang mit sich selbst (Niyamas). Zu den wichtigsten gehören Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit und Nicht-Horten sowie Zufriedenheit, Selbstanalyse und Disziplin.
Wahrhaftigkeit bedeutet integer und verlässlich zu sein sowie anderen Menschen und auch sich selbst nichts vorzumachen. Das ist manchmal schwierig, weil die vorliegenden Wahrheiten unangenehm sind. Gewaltlosigkeit ist der in Tat, Rede und Gedanken gelebte Respekt allen Lebewesen - nicht nur Menschen - gegenüber. Dies fordert uns ganz besonders bei Menschen, die wir ablehnen; es fordert von uns gerade dort Akzeptanz und Respekt, wo wir selbst nicht akzeptiert und respektiert werden. Nicht-Horten realisieren wir durch einen in jeder - d.h. nicht nur in materieller - Hinsicht einfachen Lebensstil, der Umwelt und Mitmenschen nicht ausbeutet. Damit können wir erfahren, dass wir nur das Notwendigste zur Zufriedenheit brauchen. Zufriedenheit zu kultivieren schafft auch Unabhängigkeit und hilft uns bei der weitaus größten Herausforderung: der Entwicklung einer Haltung des Nicht-Anhaftens. Selbstanalyse heißt, sich unvoreingenommen und umfassend zu erforschen, die eigenen Schattenseiten eingeschlossen. Disziplin brauchen wir nicht nur in der Übungspraxis, sondern auch im Lebensalltag: mit Stetigkeit und Verlässlichkeit können wir dann Unangenehmes und Anstrengendes meistern.
Nur wenn wir all diese Herausforderungen annehmen, können wir unser gesamtes Potenzial entfalten. In den Weisheistraditionen standen diese Prinzipien schon immer als unverhandelbare Richtlinien ganz selbstverständlich am Beginn des Weges. Wir haben allen Grund, uns heute wieder an sie zu erinnern. Wir werden sie nicht perfekt umsetzen können, wir müssen uns aber immer an ihnen messen.
"No Ego, no problem." geht ein sehr berühmter Zen-Spruch. Was ist damit gemeint? Ein Leben in Klarheit und Leichtigkeit ist ein Leben ohne Probleme. Die Entwicklung dahin geht immer mit einem graduellen Aufgeben des Ego bzw. der Egozentrik einher. Dann sind wir nicht mehr Sklaven unserer eigenen Wünsche, wie es Seneca so schön ausgedrückt hat. Befreiung (skrt. Mukthi / Moksha) meint die vollständige Befreiung vom Ego; Weisheit und wertvollste Qualitäten wie Vertrauen, Gelassenheit, Freude und Mitgefühl, die weiter unten beschrieben sind, sind eng damit verbunden. Alle authentischen Yogatraditionen betonen daher die Notwendigkeit der Abschmelzung, Abschleifung, Verminderung des Egos. Deshalb ist es so wichtig, zu verstehen, was Ego genau bedeutet, was dessen negative Begleiterscheinungen sind und warum es so wichtig ist, sich davon zu lösen.
Was bedeutet Ego? Das Wort legt zunächst nahe, dass es etwas Greifbares wäre. Dem ist jedoch nicht so. "Ego" ist nämlich lediglich ein Maß dafür, wie wichtig man sich selbst nimmt. Nimmt man sich sehr wichtig, dann richtet man seine Aufmerksamkeit ständig auf eigene Wünsche und Anhaftungen und identifiziert sich stark mit ihnen. Oft entstehen diese überhaupt erst dadurch, dass sich die Gedanken fast ausschließlich um die eigene Person drehen, insbesondere darum, wie man Vergnügungen und Vorteile erlangen kann. So wird dann von einem großen oder geringen Ego gesprochen, je nachdem, wie stark die Perspektive des Einzelnen von diesen Dingen konditioniert und eingeschränkt ist. Ist dies sehr stark der Fall, so ist der Betreffende überhaupt nicht mehr in der Lage angemessen zu handeln und zu reagieren. Aber auch wenn das Ego nur gering oder "normal" ausgeprägt ist, können wir die Dinge nicht so sehen, wie sie sind; auch dann bestimmen uns unsere Neigungen und verstellen unseren Blick. Nur wenn wir uns von diesen Konditionierungen unabhängig machen, können wir die Tatsachen sehen.
Hier kann man den wesentlichen Unterschied zum Begriff der Person erkennen, der in der oben beschriebenen Hinsicht neutral ist. Das zeigt schon seine etymologische Herkunft: "sonare" bedeutet einfach das, "was tönt", "Person" das, was durchtönt wird. Dies geschieht natürlich sehr individuell, jeder Mensch hat eine einzigartige Persönlichkeit. Es handelt sich um etwas ganz anderes, wenn sich das gesamte Dasein nur um die eigenen Wünsche dreht. Wir sind so viel mehr als unsere Wünsche.
Die Anlage des Menschen ist jedoch so, dass es für ihn ganz natürlich ist, aus einer egozentrischen Sichtweise heraus zu denken und zu handeln. Der berühmte Indologe Heinrich Zimmer hat deshalb die Tragweite der zweiten buddhistischen Wahrheit hervorgehoben, die nämlich die Folge daraus konstatiert: Durch unsere aus Zu- und Abneigungen bedingten Wünsche entsteht unser Leid. Also genau durch das, wodurch wir uns in der Regel definieren, was uns so wichtig ist. Hier gibt es allerdings - vielleicht sollte man mittlerweile besser "gab" sagen - große kulturelle Unterschiede. In einer anthropozentrischen Kultur bzw. Religion wurde man so erzogen, als würde der Mensch über der übrigen ,Schöpfung' stehen, als hätte die Natur dem Menschen zu dienen und nichtmenschliche Geschöpfe wären im Wesentlichen dazu da, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Tiere werden würdelos behandelt, ihnen wird keine ,Seele' zugesprochen, von manchen Kulturen nicht einmal Gefühle. Aus dieser Sichtweise heraus ist es dann kein großer Schritt mehr, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen und alles andere dem unterzuordnen.
Der Zeitgeist unserer Tage trägt stark zur Entwicklung dieser Einstellung bei. Dies kann man an vielem erkennen. Zunächst sind da Kommerzialisierung und Werbung: Menschen, die ihr Ego durch Äußeres bestätigen und stärken müssen, sind gute Konsumenten. Deshalb versucht die Werbung Menschen abhängig zu machen und zum Konsum von Fiktionen zu verleiten, mit denen sich diese identifizieren können, z.B. durch Kleidung, Schmuck, Kosmetik, Piercings und Tätowierungen, und natürlich durch materiell Wertvolles oder besondere Erlebnisse. Es gibt sogar Firmen, die dies offen zugeben, und damit werben: "Davon wirst du abhängig". Besonderes Kinder und Jugendliche sind sehr anfällig für solche Verführungen. Sie werden Opfer dieser Manipulationen, wenn sie nicht davor geschützt werden.
Weitere Zeichen sind, dass es den Menschen heute sehr schwer fällt, sich zurückzunehmen bzw. einzuschränken, sich zu verändern, von anderen Menschen zu lernen oder sich für zugefügtes Unrecht zu entschuldigen. Dadurch würde der eigene Stolz verletzt, der immer mit einem Ego einhergeht. Beziehungen zu anderen Menschen gestalten sich dann natürlich schwierig. Sehr sichtbar wird es freilich durch ständiges Sprechen über die eigene Person oder durch rücksichtsloses Verhalten. Aber nicht nur durch verletzen, sondern auch durch verletzt werden tritt es zu Tage. Solche Menschen nehmen alles persönlich, haben Schwierigkeiten, wenn ihr Verhalten kritisiert wird und reagieren dann aggressiv oder depressiv.
Im Gegensatz dazu kann ein Mensch, der sich selbst nicht so wichtig nimmt, andere Standpunkte und Kritik viel besser aufnehmen. Es geht ihm nicht darum "sich selbst zu verwirklichen", er folgt nicht dem, was Michel Foucault als kalifornischen Lebenskult bezeichnet hat, d.h. durch Erfahrungen - welcher Art auch immer - das Ego aufzubauen. Er wird, in Foucaults Worten, Freiheit nicht als ein Recht, sondern als ein Können auffassen: Als eine Praxis der Lebenskunst, die eine Askese kultiviert. Dabei würde das Gegenteil dessen geschehen, was uns der Zeitgeist nahelegt: Nämlich zu erfahren, dass Einfachheit und Einschränkung - sei es vom Materiellen oder von Ablenkungen - die Person stärken und das Ego schwächen. Der Sinn der Weisheitssuche war immer, die Existenz zu meistern und die Egozentrik zu überwinden. Geschieht das Gegenteil, so handelt es sich um etwas anderes. Der Begriff der Askese wurde durch die Körper- und Lebensfeindlichkeit des Christentums verfälscht und deshalb verstehen wir ihn nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung. Von alters her meinte er, sich intensiv mit existenziellen Themen auseinanderzusetzen, Übungswege zu beschreiten und das Leben zum Guten hin zu kultivieren. Dazu gehört immer, dass man nicht vor sich selbst flieht und sich mit den unangenehmen Wahrheiten über sich selbst aufrichtig und wach auseinander setzt. Und dazu gehört auch, hinter die individuellen Unterschiede zu schauen und zu erkennen, dass menschliche Gedanken und Gefühle im Grunde etwas Allgemeines und Unpersönliches sind; sie zeigen sich - unterschiedlich ausgeprägt - bei allen Menschen.
Individualismus ist etwas ganz anderes als Individualität. Letztere ist jedem Menschen eigen und drückt die oben schon erwähnte Tatsache aus, dass jeder Mensch als Person einzigartig ist. Jeder sollte seine ureigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse verstehen und bewusst mit ihnen umgehen, sowie in der Lage sein, sich vor kollektiven Übergriffen zu schützen, d.h. sich von unheilsamen Strömungen abzugrenzen und von Manipulationen nicht vereinnahmen zu lassen. Individualismus dagegen ist die Geisteshaltung, die ausschließlich dem Menschen Bedeutung zuspricht und der Mitwelt keinen eigenständigen Wert zugesteht. Mit dieser Geisteshaltung rechtfertigen manche ihr Verhalten; Auswirkungen auf die Mitwelt, seien es Tiere, die gequält werden, ganze Arten, die aussterben, oder Ökosysteme, die verschwinden, spielen für sie keine wesentliche Rolle. Für diese steht einzig der Wunsch im Zentrum, das Leben so lange wie möglich genießen zu können und sich dabei sicher zu fühlen. Deren Lebensstil, insbesondere deren Konsum-, Ernährungs- und Mobilitätsverhalten nimmt deshalb auch keine Rücksicht auf Energie- und Rohstoffverbrauch oder auf soziale und ökologische Folgen ihres Handelns. Dem Wunsch nach Sicherheit gehen Meinungsmacher und Politiker nach, die sich - zuweilen - ohne Umsicht und um jeden Preis dem Schutz von Menschenleben verschreiben, egal welche soziale, ökologische oder gesellschaftliche Kosten dies verursacht. Bedingt auch durch diese Haltung sind in letzter Zeit gefährliche Verhältnisse entstanden: In Medien, Politik und Justiz sehen wir moralischen Verfall, vorsätzliche Täuschungen und unreflektiertes Freund-Feind-Denken; Bürger werden zu Untertanen - trotz ihres oder gerade durch ihren Individualismus.
Wenn unsere Gattung eine Chance auf ein Überleben haben soll, so müssten wir lernen, wie wir uns in die Verhältnisse der Natur einfügen können, statt sie beherrschen zu wollen; dazu müssten wir erkennen, dass wir nicht über ihr stehen, sondern Teil von ihr sind. Doch auch wenn dieser Lernprozess nicht gelingt, wenn die Masse der Menschen in ihrem Ego gefangen bleibt, so sind diese im eigentlichen Sinn nicht schuldig. Denn Schuld kann es nur geben, wenn bewusst aus eigener Verantwortung gehandelt wird, nicht etwa durch die "natürlichen" und unbewussten Mechanismen der Egozentrik. Diese Mechanismen können nur mit wahrer Bewusstheit aufgebrochen werden, und nur mit wahrer Bewusstheit können wir sehen, was geschieht, was wir uns und anderen antun. Und wenn wir dies sehen könnten, dann würden wir anders handeln; wir könnten dann gar nicht anders. Wir würden dann nicht nur anders handeln, sondern ganz anders fühlen und sein.
Bevor wir uns mit so interessanten Themen wie dem Erwachen oder der Befreiung beschäftigen, ist es sinnvoll die Frage zu stellen, ob wir dafür denn die nötige Reife mitbringen. Wir leben in einer pathologischen, infantilen und dekadenten Gesellschaft, von der die meisten von uns stark geprägt sind. Jüngste Zeichen sind die Art und Weise, wie wir mit Grippewellen und anderen Krisen umgehen. Dies betrifft besonders die blinde Angst, die durch Manipulation und Zensur in Medien und Wissenschaft erzeugt wird und durch die sich so viele leiten lassen. So konnte es zu einer Spaltung der Gesellschaft kommen, sowie zu Intoleranz, Ausgrenzung und Rücksichtslosigkeit Andersdenkenden und Minderheiten gegenüber. Das autoritäre Vorgehen durch Überwachung, Unterdrückung und Denunziationen wird von vielen Erwachsenen akzeptiert oder sogar unterstützt.
Erwachsene übernehmen oft auch keine Verantwortung für Entscheidungen, im Alltag wird sie manchmal sogar an die eigenen Kinder abgegeben - diese übernehmen sie zwar gerne, sind damit freilich besonders überfordert. Reife hat nicht direkt etwas mit dem Alter zu tun, sondern mit kritischer Intelligenz, Klarheit und Intuition. Diese Vermögen führen ein Schattendasein in unserer haltlosen, technikverliebten, zerstreuten, relativistischen und materialistischen Zeit. Sie können durch die vorherrschende Erziehung, unseren Lebensstil und mangels Vorbilder auch nur schwer erworben werden. Umso wichtiger ist es, nach Wegen zu suchen, auf denen dies möglich ist. Der Yoga der Erkenntnis (Jnana Yoga) und der der Geisteskontrolle (Raja Yoga) können dazu schon am Anfang des Weges wertvolle Orientierung geben.
Wie kann der Mensch Reife erlangen? Nur indem er die Gestaltung des eigenen Lebens übernimmt. Dazu gehört zunächst einmal der Mehrheit nicht blind zu folgen, wichtige Fragen zu stellen und dann vor Veränderungen nicht zurückzuschrecken. Was macht meine Person aus, wie kann ich meine Einstellungen, Gefühle und Gedanken positiv beeinflussen? Wie kann ich stabiler und resilienter Störungen und Reizungen gegenüber werden? Wie kann ich meinem Leben eine heilsame Richtung geben? Ohne solche Fragen zu stellen, werden wir immer an der Oberfläche bleiben, im Leben genauso wie auf dem Weg des Yoga. Auch können wir unseren Mitmenschen nur dann wirklich helfen, wenn wir Verantwortung für uns selbst bereits übernommen haben.
Die wahren Meister haben die Adepten immer ermutigt, das über die Welt und sich selbst erworbene Wissen stets zu hinterfragen und darüber zu reflektieren. Der Yoga unterscheidet sich darin von dogmatischen Religionen, die metaphysische Behauptungen aufstellen, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Darüber hinaus spielen meditative Praktiken eine wichtige Rolle, diese kultivieren einen Zustand der Klarheit und Offenheit; jenseits der Gedanken, die uns oft gefangen halten. Das mag den einen oder anderen auf den ersten Blick überraschen, doch mit der Erfahrung dieses Zustandes verbessert sich kontinuierlich unser Gespür für das Wahre, das Ge-wahr-sein.
Hätten wir Reife erlangt, dann würden wir ohne Illusionen leben und wären nicht von Mustern oder Traumata bestimmt. Dann hätten wir schon einen wichtigen Schritt hinter uns, wenn auch erst die Voraussetzung dafür geschaffen, eine tiefere Wahrheit zu erforschen. Dann böte sich uns die Möglichkeit, diese mit Hilfe der intersubjektiven Methoden der Yogapraxis zu erkennen, und das wäre dann ein Erkennen jenseits von Meinungen und Dogmen.
Auch wenn wir es oft nicht erkennen und wahrhaben wollen, leben wir im Ganzen in einem Zustand der Unwissenheit und Verblendung. Befreiung oder Erwachen meint die Transformation des Menschen von der Verblendung zur Weisheit. Dies mag bisweilen unmenschlich wirken, weil unser Sinn vom Menschsein stark von unserer Identität aus Zu- und Abneigungen geprägt ist. Mit der Befreiung löst man sich jedoch gerade von dieser Art der Identität.
Die Transformation können wir durch eine tiefe und kontinuierliche spirituelle Praxis vorbereiten. Bei deren Qualitäten lassen sich Ursache und Wirkung nicht immer strikt voneinander trennen. Manche Qualitäten können gut durch Übung kultiviert und vertieft werden; dies betrifft besonders die Entspannung, Sammlung und Offenheit. Im Gegensatz dazu kann man die vier Merkmale der Befreiung nicht durch bloßes Üben meditativer Techniken erlangen. Vertrauen, Freude, Gelassenheit und Mitgefühl sind Zeichen einer echten Verwandlung, die wir nicht erzwingen können. Deswegen wird oft von Gnade gesprochen. Wir können uns das Entstehen dieser wertvollen Früchte auch nicht wirklich erklären. Was wir jedoch wissen, ist, dass sie von einer inneren Quelle gespeist werden, die sich langsam oder plötzlich öffnet. Wie auch immer diese Früchte reifen, es hilft, deren reine Formen zu betrachten. Wenn wir diese, im Gegensatz zu den konventionellen Formen, verstehen, dann können wir auch besser verstehen, wo wir uns gerade selbst auf dem Weg befinden. Und es kann uns inspirieren, den Weg mit Überzeugung und Konsequenz weiter zu gehen. Das Erwachen selbst ist keine Erfahrung und die Meister haben immer wieder betont, dass man darüber nicht sprechen kann. Es ist jenseits der Worte und nie abgeschlossen, weil es immer offen ist.
Welche Art von Vertrauen? Mit dem Erwachen suchen wir keine Sicherheit mehr in Konzepten, Ideologien, Dogmen oder Glaubenssätzen und auch nicht mehr bei anderen Menschen. Wir haben erkannt, wie unverlässlich und trügerisch es ist, wenn wir uns von solchen vermeintlichen Sicherheiten abhängig machen. Das Vertrauen, das dann auftaucht, ist ein Vertrauen ins Leben, ein Vertrauen ins Dasein, selbst wenn es uns mit unangenehmen Dingen konfrontiert. Auch wenn wir körperliche oder emotionale Schmerzen verspüren, leiden wir dann nicht mehr darunter, sondern können diese als einen unvermeidbaren Teil unserer Existenz betrachten. Dieses Vertrauen ist ein bedingungsloses Aufgehobensein und zeigt sich durch Disidentifikation zu den Erfahrungen, die kommen und gehen. Das heißt nicht, dass sich der Befreite vom Leben zurückziehen muss, auch wenn das gelegentlich vorkommt. Mit einem unerschütterlichen Vertrauen kann jeder Situation ins Auge geblickt werden. Die Meister leben mit einer Furchtlosigkeit, die uns in vielen Geschichten überliefert wird.
Welche Art von Gelassenheit? Was sich auf körperlicher Ebene als Entspannung zeigt, das zeigt sich auf mentaler Ebene als Gelassenheit oder Gleichmut. Manche Menschen verwechseln Gelassenheit mit Gleichgültigkeit, was etwas ganz anderes ist. Nichts könnte dem Erwachten ferner sein als Gleichgültigkeit. Da er in direkten Kontakt mit der Wahrheit gekommen ist, unterscheidet er diese klar von der Lüge - in seinem Denken, Sprechen und Handlen. Gelassenheit ist stark vom Vertrauen bedingt. Ob Positives oder Negatives erlebt wird, man nimmt es nicht mehr so wichtig und reagiert auch nicht blind darauf. Man weiß, dass sich die Dinge jederzeit ändern können und dass alles von kurzer Dauer ist. Das, was zählt, liegt dann außerhalb der Wechselfälle des Lebens. Aus dieser Gelassenheit heraus entstehen Toleranz und Frieden mit sich selbst, anderen Menschen und der Welt.
Welche Art von Freude? Ebenso wie das Vertrauen speist sich die Freude nicht mehr aus äußeren Dingen. Gewöhnlich suchen wir Freude in angenehmen Erfahrungen, und ohne diese geht es uns nicht gut. Dann leben wir in einem Gefühl des Ungenügens und gehen auf Jagd nach den für uns angenehmen sensorischen Reizen. In der Regel machen wir uns von ihnen abhängig, weil uns das Angenehme nur kurzzeitig Befriedigung verschaffen kann und wir immer wieder gezwungen werden, solche Erfahrungen zu wiederholen. Die Freude, die hier gemeint ist, ist eine Freude, die von innen kommt, unabhängig davon, was draußen passiert. Sie hängt eng mit dem Vertrauen und Loslassen zusammen und zeigt sich durch eine Art fortwährende innere Extase. Daraus ergibt sich eine tiefe Zufriedenheit, man ist nicht mehr Sklave der eigenen Wünsche und lebt in Unabhängkeit und Fülle.
Welche Art von Mitgefühl? Hier ist kein Mitgefühl gemeint, das durch rationale Überlegungen entstanden ist, wie etwa die Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit oder der kategorische Imperativ der Ethik. Diese Überlegungen sind freilich wertvoll und helfen wichtige Tugenden zu kultivieren. Mitgefühl hier meint eine innere Haltung zur Welt und zu anderen Lebewesen, die aus der Erfahrung und Überzeugung einer Einheit und Verbundenheit mit allem Leben entstanden ist. Vor dem Erwachen leben wir in einer Haltung der Dualität, wir unterscheiden zwischen uns und den anderen. Danach betont der Erwachte das Gemeinsame, weniger das Trennende, weil er das Gemeinsame als das Fundamentale erkannt hat. Deshalb wird der befreite und erwachte Mensch so weit wie möglich gewaltlos bleiben und zwischen den Menschen ausgleichen und vermitteln. Manche verwenden in dem Zusammenhang auch das oft missbrauchte Wort der Liebe, dann meint es die bedingungslose und alle Lebewesen umfassende.
Um meditativ üben zu können, haben uns die Meister neben der Entspannung auch Sammlung und Offenheit gelehrt.
Was bedeutet Sammlung? Sammlung wird mit verschiedenen Begriffen umschrieben, man spricht von Fokussierung, Versenkung oder auch Konzentration. Letzter Begriff ist etwas problematisch, da er mit Anstrengung und Anspannung konnotiert ist. Dies steht im Widerspruch zur Entspannung und wäre deshalb kontraproduktiv. Um Missverständnisse zu vermeiden sprechen wir deshalb nicht von Konzentration. Mit Hilfe der Sammlung soll unser zerstreuter und verwirrter Geist gesammelt und beruhigt werden. Hierzu benutzen wir einen "Anker", auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten und zu dem wir mit unserer Aufmerksamkeit immer wieder zurückkehren, wenn wir davon abkommen. Dieser Anker kann ein Objekt unserer Sinne sein: etwa das Hören eines Gongs, das Spüren des Körpers oder das Sehen eines visuellen Objektes. Dieser Anker bzw. Fixpunkt kann auch ein Geisteszustand der Achtsamkeit, Aufmerksamkeit bzw. des Gewahrseins sein. Egal mit welcher Art von Anker wir arbeiten: es geht immer darum, zu diesem zurückzukehren, sobald wir merken, dass unser Üben vom Thema abschweift. Insofern ist der Prozess des Übens von meditativen Techniken ein dynamischer Vorgang - im Gegensatz zu den stabilen meditativen Zuständen (Skrt. Dhyana), die wir dabei erfahren können. Über die Zustände selbst können wir wenig sagen oder schreiben; diese liegen jenseits unserer Kategorien der Anschauung und damit jenseits unserer verbalen Begriffe. Was wir sagen können ist einerseits, wie wir die Zustände kultivieren können, und andererseits, was sie bewirken. Hat man längere Zeit Meditation praktiziert, kann eine fortgeschrittene Fähigkeit zur Sammlung hinzukommen: der Adept kann sich dann willentlich in einen Versenkungszustand begeben. Dies ist in der Regel erst nach Jahren intensiver Meditationspraxis möglich. Deswegen sind Geduld und Ausdauer unerlässlich.
Was bedeutet Offenheit? Egal ob Meditation neu für uns ist oder ob wir schon länger meditieren, wir müssen immer offen für das Unbekannte und Neue sein - nur dadurch ist Transformation möglich. Genau das stellt aber eine sehr große Herausforderung für uns dar. Zum einen erfordert es Mut, sich auf das Ungewisse einzulassen. Lehrer und Traditionen können hier helfen, so dass wir die Angst vor dem Ungewissen verlieren. Aus Angst ziehen wir häufig, ganz so wie im Leben, die Sicherheit der Freiheit vor; im Leben zahlen wir dafür meist einen hohen Preis. Zum anderen müssen wir uns von dem lösen, was Offenheit behindert: unsere gewohnheitsmäßigen Vorlieben und Abneigungen. Diese Gewohnheiten sind so tief in unserer Psyche verankert, dass wir uns nur sehr schwer von ihnen lösen können. Die Gewohnheiten sind es auch, die unserem Leben aus weltlicher Sicht Bedeutung und Identität geben. Sich von ihnen zu lösen ist deshalb in der Regel ein schmerzhafter Prozess. Wer verabschiedet sich ohne Not gerne von lieb gewonnenen Irrtümern? Offenheit ist auch damit verbunden, dass man erkennt, dass der spirituelle Wege nie abgeschlossen ist. Der spirituelle Weg kennt zwar Durststrecken aber keine Langeweile. Freilich kann man das aus weltlicher Sicht schwer erkennen, es fehlen Ablenkungen und Zerstreuungen.
Sammlung und Offenheit im Alltag: Genauso wie Entspannung nicht nur beim Üben meditativer Techniken sondern auch im Alltag eine große Rolle spielen sollte, so trifft dies auch für die anderen Merkmale zu. Formales Üben findet im geschützten Raum statt, was es uns leichter macht, die Fähigkeiten bzw. Merkmale zu kultivieren. Wie weit dies gelungen ist, zeigt sich dann dadurch, ob wir zu einer meditativen Lebensführung finden. Sammlung im Alltag bedeutet nicht, sich zurückzuziehen, sondern ganz auf das bezogen zu sein, was gerade geschieht. Dies kann eine Tätigkeit sein oder eine Begegnung mit einem andern Menschen. Dies drückt sich sehr schön in der Frage aus, wer der wichtigste Mensch im unserem Leben ist? Die Meister haben uns gelehrt, dass es immer der Mensch ist, der gerade vor uns steht. Offenheit bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern nach außen hin anpassungsfähig und flexibel zu sein. D.h. wir beharren nicht auf die eigenen Vorstellungen und geben diesen nicht die alleinige Bedeutung, sondern nehmen eine Haltung ein, die in dem, was geschieht, womit wir konfrontiert werden, etwas sieht, das uns etwas sagen will. Meistens verhalten wir uns nämlich genau entgegengesetzt: nach außen unnachgiebig und festgelegt, uns selbst gegenüber nachlässig. Chögyam Trungpa brachte das auf seine Art etwas überspitzt so auf den Punkt: "In jeder Situation haben Sie die Wahl entweder offen oder eine Nervensäge zu sein."
Entspannung, Sammlung und Offenheit können nicht erzwungen werden und sind nicht wasserdicht voneinander zu trennen. An manchen Tagen oder auch in manchen Lebensphasen werden uns die Dinge einfacher gelingen, dann wieder weniger. Deshalb sollten wir noch einem vierten Merkmal Beachtung schenken. Dies ist eine Haltung, die so schön mit den Worten "sich selbst ein Freund sein" umschrieben wird, die Anwendung der Gewaltlosigkeit (Skrt. Ahimsa) auf die spirituelle Praxis - ein gutes Maß an Toleranz und Nachsicht sich selbst und auch anderen gegenüber.
Gründe der Anspannung: Wenn wir genau hinschauen, liegt der Anspannung, mit der die Meisten von uns durchs Leben gehen, eine innere Haltung des Widerstandes zu Grunde. Wir hätten gerne, dass unsere Welt und unser Leben anders wären als sie in der Realität sind. Grund dafür sind Gefühle, Gedanken und Emotionen des Ungenügens. Dieses Ungenügen wiederum hängt eng mit unseren Wünschen und Hoffnungen zusammen. Meistens erkennen wir nicht, dass es sich dabei häufig nicht einmal um unsere echten Bedürfnisse handelt, sondern um Normen, die wir vom Umfeld und von äußeren Einflüssen übernommen haben. Die fast lückenlose Ökonomisierung unserer Welt durch Materialismus, Wettbewerb und Werbung haben unsere Erziehung, Gesellschaft, Beziehungen und damit uns und unser Leben stark geprägt. Hinzu kommt, dass wir die Balance zwischen Aktivität und Passivität verloren haben. In unserer Kultur gilt es als lobenswert etwas erreichen zu wollen und aktiv, ehrgeizig, eifrig und fleißig zu sein. Dies hat stark zu der Entwicklung von Wissenschaft und Technik beigetragen, von der wir heute vielfältig profitieren. Darüber haben wir allerdings vergessen, den passiven Teil des Lebens zu kultivieren und zu schätzen. Passivität meint hier nicht beliebige Einflüsse unreflektiert in sich aufzunehmen - was gefährlich wäre - sondern das bewusste Spüren des Lebens bzw. des Daseins.
Folgen der Anspannung: Mit einem andauernden Konflikt zwischen dem was ist und dem was sein sollte ist weder ein harmonischer Alltag noch Meditation möglich. Dieser zunächst mentale Konflikt spiegelt sich sowohl im Emotionalen als auch im Körperlichen. Dies führt dann zu körperlichen Verspannungen und auf Dauer zu physischen Krankheiten. Zwar ist das Bestreben häufig ein positives, der Zweck soll die Mittel heiligen. Allerdings ist das auch hier ein vergebliches Bemühen. Anspannung ist weiter ein wesentliches Hindernis in der Meditation: Während der Praxis werden Ablenkungen von außen als Störung empfunden und die Gedanken können nicht zur Ruhe kommen. Das Jetzt und die Situation können nicht so angenommen werden, wie sie sind.
Kultivierung der Entspannung: In der Praxis der Entspannung macht man sich die enge Verknüpfung von Geist, Emotionen und Körper zu Nutze: Wenn wir die körperliche Entspannung regelmäßig praktizieren, so wirkt sich dies ebenso positiv auf die emotionale sowie mentale Ebene aus. Körperliche Entspannung kann geschehen, wenn wir unseren Körper zur Ruhe kommen zu lassen und ihn dabei bewusst spüren. Dabei richten wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf Bereiche, die am stärksten von Verspannungen betroffen sind: Füße, Hände, Hüfte, Schulter / Nacken, Kiefer und Zunge, Stirn und Gesicht. Übt man dies regelmäßig kann einerseits der Körper Kraft tanken, andererseits wird der Geist nicht nur ruhiger sondern kann auch offener und klarer werden; er dreht sich dann auch nicht mehr ausschließlich um die eigenen Wünsche und Ansichten. Deshalb ist es gut, wenn zu Beginn des Sitzens der Fokus zunächst auf die Entspannung gelegt wird. Weiter kultiviert man durch meditative bzw. mentale Techniken einen Zustand ohne Gedanken, der eng mit dem parasympathischen Nervensystem in Verbindung steht; dieser Teil des Nervensystems ist zuständig für das passive bzw. autonome Geschehen. Dies ist nicht nur im Sitzen, sondern auch im Stehen, Liegen oder Gehen möglich.
Wirkungen der Entspannung: Entspannung bzw. Loslassen ist eine der wichtigsten Zutaten zur Meditation. Manche Meister haben sogar betont, dass es sich dabei um das wichtigste Merkmal einer erfolgreichen Meditation handelt. Ohne dieses Merkmal ist es nicht möglich in einen stabilen gedankenlosen Zustand zu kommen. Man wird dann immer wieder durch Gedanken abgelenkt, was wertvolle Effekte der Meditation verhindert. Die Anspannung kann subtile Formen annehmen: Allein der Wunsch, mit meditativen Techniken etwas erreichen zu wollen erzeugt eine Spannung bzw. einen Widerspruch zwischen dem was ist und dem was sein soll. Dies ist ein Paradox der Meditation: Wir wissen, dass die Praxis gut und notwendig ist, um etwas zu erreichen. Wir wissen auch, dass die Fixierung auf Ziele kontraproduktiv ist. Wie wir mit diesem Paradox umgehen entscheidet darüber, welche Früchte wir aus der Meditation ernten können. Generell kann man sagen, dass es bei den Mechanismen im Alltag und in der Meditation Ähnlichkeiten gibt. Dies betrifft auch die Entspannung. Man wird feststellen, dass man im Alltag viel mehr Energie hat und wesentlich widerstandsfähiger gegen Störungen ist, wenn man gelassen ist. Das hat auch nichts mit Gleichgültigkeit zu tun; es ist eher so, dass sich Dinge viel leichter zum Besseren wenden, wenn wir sie so akzeptieren, wie sie gerade nun mal sind - ein weiteres Paradoxon. Wenn Energie fließt, dann ist unsere Aktivität auch eine andere, nämlich eine ohne Anspannung. Dann können wir intuitiv erkennen, wann es Zeit für Passivität und Aktivität ist und können Passivität und Aktivität nicht nur ausgleichen sondern sogar verbinden.
Von Gesundheit sprechen wir meist erst dann, wenn wir sie verloren haben. Nicht nur werden wir uns dann des Wertes der Gesundheit bewusst, manchmal geht dies mit einer Krise einher, die uns klar macht, dass es Zeit ist, unsere Lebensgewohnheiten zu ändern. Meistens gehen wir mit den Krankheiten aber so um, wie es uns die Gesellschaft suggeriert: Wir wollen die Krankheit so schnell wie möglich los werden, um uns wieder ganz den Ablenkungen und Unterhaltungen, die das Leben bietet, zuwenden zu können. Einerseits erzeugt dies oft Erwartungsdruck und Konflikt, was Heilung eher verhindert. Andererseits können wir so nicht zum Wesentlichen vordringen, von der Krankheit zu lernen und mit ihr zu wachsen. Der Kern des Problems sind nicht die Symptome der Krankheit, sondern die Ursachen, die dahinter stehen. Wie entwickelt sich eine Krankheit? Wir haben den körperlichen Signalen nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, wir haben unsere größte Verantwortung nicht angenommen, nämlich die Sorge um uns selbst. Dies ist eine Kernbotschaft des Yoga, die ihn für das Gesundheitsmanagement so wertvoll macht: Lenke die Aufmerksamkeit von den Ablenkungen in die Gegenwart. Wievieles könnte mit einer solchen Haltung vermieden werden, von der leichten Verkühlung über das Rückenleiden bis zum Verkehrsunfall. Der Körper sendet oft subtile Botschaften, bevor eine Krankheit ganz ausbricht; können wir diese Botschaften nicht lesen, so werden wir gezwungen, nach dem Ausbruch die dann deutlicheren Botschaften wahrzunehmen. Ist es nun aber zu einer Krankheit gekommen, dann hilft es, in der Krankheit keine Bedrohung, sondern eine Erfahrung zu sehen, ihr mit Offenheit und Akzeptanz zu begegnen. Auch dazu bildet der ganzheitliche Yoga einen Rahmen: Durch Selbsterforschung erkennen wir unseren eigenen Beitrag zur Krankheit, durch Praxis ohne Leistung und Ziel - anders als im Sport oder in manchen sportlich orientierten Yogastilen - entwickeln wir Sensibilität und Akzeptanz. Wir erkennen, dass alle Menschen Erfahrungen wie Alter, Krankheit und Tod, sowie Emotionen wie Angst und Unsicherheit gegenüberstehen. Das Annehmen dieser menschlichen Grundkonstanten ermöglicht es loszulassen und schon dadurch Selbstheilungskräfte zu aktivieren.